Datum
Di, 13.9.2022

Kategorie
Essay

Projekt
TONALiSTEN Lab

Künstler*innen
Josefa Schmidt

Text
Johannes Schropp

Fotos
Markus Kuczewski

Die Fotografin Chloe Rosser macht menschliche Körper auf ungewohnte Art sichtbar. In meist verkrümmten, zusammengekauerten Posen auf dem Boden, in denen Gliedmaßen und Kopf weitestgehend versteckt werden, fotografiert sie die Rückseite nackter Körper. Auf den Fotos wirken diese skulpturalen Körperwesen auf befremdliche, unmenschliche Weise menschlich und vertraut. Dabei sind die Fotos kaum oder gar nicht bearbeitet und versuchen, die Realität des Moments der Fotoaufnahme möglichst unverändert abzubilden.(1) Eine ähnliche Idee stand zu Anfang des Projekts Spiegel im Spiegel im Raum. Das Format Konzert selbst zusammenzukauern, einzelne Teile zu verstecken, zu verzerren, rücklings zu denken, zu dekonstruieren und schlussendlich das Konzert vor sich selbst zu stellen. Der formale Gedanke eines Spiegels, der sich als roter Faden sowohl makroskopisch als auch in Details durch die gesamte Performance zieht. Dabei verstanden wir den Spiegel nicht nur als geometrisches, symmetrisierendes Element, sondern vor allem im Lacan’schen (2) Sinne als eine Instanz, welche Erkenntnisse über die eigene Identität wiedergibt. Hiernach würde ein Spiegel urteilslos die Realität des Selbst (hier: des Konzerts) sichtbar machen.

So betrachteten wir das Konzert als Institution, die über den Verlauf der Zeit bis zu einem Punkt geformt wurde, an dem sie als Realität absolut und normal wahrgenommen und mit all ihren sozialen Codes bestätigt wird: Von der Ankunft am Konzertort, einer Ticketkontrolle, nach der eine Art zeremonielles Warten auf den Einlass beginnt; sitzend danach im Saal ein erneutes Warten auf das Auftreten der Musiker*innen; Applaus – Stille – Vortrag des ersten Stücks kohärent (wenn das Werk aus mehreren Sätzen besteht: meist ein Satz nach dem anderen. Ohne Applaus zwischendurch – hier outen sich Laien-Konzertbesucher*innen, die versehentlich schon nach dem ersten Satz des Trios applaudieren und dafür strafende Blicke professionellerer Konzertgänger*innen ernten).

Diese Institution galt es für uns zu verkrümmen, zusammenzukauern, zu verzerren, zu dekonstruieren, ihr einen Spiegel vorzuhalten.

Das Konzert als perfomative Institution

Um eine klare Erkennbarkeit, und somit einen klaren Bezugsrahmen zu gewährleisten, behielten wir das Gerüst der Institution Konzert als Dramaturgie bei – eine Kuration aus historischen musikalischen Werken, die in der Performance großteils auch von Beginn bis Ende ohne gröbere zeitliche Einflüsse beibehalten wurde. Die Auswahl beschränkte sich dabei auf Literatur, die einem klassischen Konzertpublikum sehr vertraut bis zumindest ästhetisch (Ohr-)vertraut ist (Mozart – Pärt – Henze). Die musikalischen Inhalte wurden dabei zu Topografien (gedacht als eine Einheit aller tradierter choreographisch/musikalisch/sozialen Aspekte des Vortrags eines klassischen Klaviertrios) – zu Rahmen, um die von uns vorgenommenen Veränderungen innerhalb sichtbar zu machen. Ein wichtiges Interesse und künstlerisches Werkzeug hierbei war das Zusammenkauern, Verstecken, Verzerren sowie die Dekonstruktion dieser Topografien. Nicht als ästhetischer Selbstzweck oder zeitgenössisches Tuning alter Kunst, sondern um den Blick in den Spiegel zu ermöglichen, der Zwischenräume eröffnet, in denen eine wie oben beschriebene befremdlich- vertraute Erfahrung ermöglicht würde. Es ging also nicht um den Vortrag der Musikstücke selbst (was üblicherweise das Ziel eines Konzerts ist), sondern um die Art und Weise, wie die Musikstücke präsentiert wurden und wie sie sich innerhalb der Konzertdramaturgie, des sozialen Gefüges von Künstler*innen – Publikum, sowie dem Raum kontextualisierten.

»Das Konzert begann nicht im Saal, begann nicht mit dem ersten Ton,

sondern im Moment der Ankunft des Besuchenden Körpers am Konzertort.«

So begann der Abend schon bei Ankunft des Publikums mit einer kurzen, individuellen Begrüßung jeder/s einzelnen Besucher*in durch die Künstler*innen. Hierbei wurde nicht viel Inhalt vermittelt, lediglich die Distanz, die üblicherweise zwischen Bühnenakteur*innen und Zuschauenden besteht gebrochen, bevor überhaupt ein Ton Musik gespielt wurde. Das Konzert begann nicht im Saal, begann nicht mit dem ersten Ton, sondern im Moment der Ankunft des Besuchenden Körpers am Konzertort.

Das Brechen einer tradiert eingespielten Erwartungshaltung an den Moment des Beginns eines Konzerts wurde in einem zweiten Schritt noch weiter dekonstruiert. Vor 19:30 Uhr; zu welcher Zeit der Konzertbeginn offiziell angekündigt war, begaben sich die Musiker*innen in den Saal und spielten einen ersten Satz Mozart. Die Türen des Saals halb geöffnet und somit für das Publikum im Vorraum hörbar, wurde das erste Musikstück des Abends zur Hintergrundmusik, zur Barmusik. Anders als eine Beiläufigkeit oder bloßer pfiffiger Bluff war diese Situation lediglich die Nutzbarmachung einer in der sozialen Choreographie des Konzerts sowieso schon enthaltenen Situation als Hörperspektive. Abseits der im Konzert üblichen Frontalbeschallung, war ein Grundinteresse des Projekts, alternative Hörerfahrungen wie diese zu ermöglichen.

Im Anschluss wurde das Publikum schlussendlich mit eindeutiger Geste (Henze) eingeladen, den Saal zu betreten. Anstatt einen bestuhlten, für ein Konzert vorbereiteten Raum zu betreten, fand das Publikum einen fast leeren Raum, getaucht in magentafarbenes Licht, welches durch einen Performer mit einer Nebelmaschine zunehmend verstreut und undurchsichtig gemacht wurde. Zu hören war ein langsames Stück – Mozart – zu sehen jedoch keine Musiker*innen, der Flügel komplett geschlossen. In dem zunehmend vernebelten Raum konnte sich frei bewegt werden und dem vorab aufgenommenen Mozart gelauscht. Dabei ist die Aufnahme keinesfalls in Studioqualität und versucht keineswegs, ein räumlich ideales Hörerlebnis abzubilden (oder sogar hyperreal herauszustellen). Mal ist das Mikrofon zu nah am Cello, mal so tief im Flügelinnenraum dass Übersteuerungen zu hören sind. Mal kann man schnelle Bewegungen des Mikrofons im Raum hören, mal sogar eine Person, atmend, rennend, sich drehend. Die verkippte physische Situation des Publikums im Raum wird von der Art und Weise der Aufnahme in einer verkippten Hörperspektive nachgezeichnet. Als anschließend mit dem Auftritt der Musiker*innen hektisch von Performer und Helfenden Stühle aufgestellt wurden und das Publikum zum Sitzen aufgefordert wurde (während das Klaviertrio live Henze spielte), war das Konzert schon halb vorbei, bevor man sich in einer traditionell bestuhlten Konzertsituation fand.

Anstelle einer choreographischen Inszenierung oder in Bewegung übersetzter Repräsentation von Musik arbeiteten wir grundsätzlich mit solchartigen Verzerrungen der Rahmen, innerhalb derer eine Konzertpraxis stattfindet.

Zusammenfaltung des Ensemblespiels

Ein Beispiel für eine Verzerrung, die sehr stark in die konkrete Klanglichkeit eines Musikstücks einwirkte, ist das zentrale Stück des Abends, Spiegel im Spiegel von Arvo Pärt:

Die traditionelle Raumverteilung eines Klaviertrios, in der meist das Klavier hinter der/m Geiger*in (vom Publikum aus links) und Cellist*in (rechts) steht, wurde auf die Position der Pianistin zusammengefaltet. Alle drei spielen vom selben Punkt. An allen Instrumenten. Gleichzeitig. Die musikalische Faktur wurde beibehalten, jede Phrase begeben sich die Musiker*innen in eine andere physische Konstellation, die Hände verschränkt und auf verschiedene Instrumente verteilt. Das was die Musik verändert, ist die neuartige Koordination, in der das Trio sich unmittelbar physisch synchronisieren muss. Das Trio bewegt, atmet, musiziert körperlich mehr als musikalisch zusammen. Diese inkorporierte Verzerrung macht sich akustisch bemerkbar: es klingt fragil, Töne brechen ab, kommen gar nicht erst zustande, es wird feiner, wackliger, zerbrechlicher. Eine Klangqualität, die unmittelbar durch die veränderte Körperlichkeit fast als Nebenprodukt hervorgebracht wurde. Dabei waren die Musiker*innen zwar ineinander verschränkt, jedoch nicht in Positionen, die das Zusammenspiel ernsthaft gefährden.

»Alle drei spielen vom selben Punkt.

An allen Instrumenten. Gleichzeitig.«

Diese Art der Verzerrung, die eine neue Qualität in dem Vorhandenen hervorbringt bzw. gewohnte Situationen durch simple Veränderungen umdeutet zieht sich als roter Faden durch die Gesamtheit der Performance. Es wird nicht versucht, etwas Neues zu erschaffen, sondern Vorhandenes neu(-gierig) erleben/bewerten/sehen/hören zu können. So suchten wir nach Räumen, Verzerrungen, Kippbildern, die innerhalb des Formats Konzert sowieso schon enthalten sind und emphasierten, isolierten und manifestierten diese neu durch eine choreographische Brille. Audio- und Videoaufnahmen, gezielter Einsatz von Licht, gezielter Einsatz der Raumsituation und Publikumspartizipation bzw. -perspektive.

Mehr als eine Ästhetisierung dieser Mittel versuchten wir, so roh und unmittelbar wie möglich zu arbeiten. Audio- und Videoaufnahmen, die in der Performance verwendet wurden, waren immer der erste Take. Es sind Versuchsanordnungen, innerhalb derer geprobte, vorbereitete Elemente ungeprobten, improvisierten, unvorhersehbaren gegenüberstanden: Die Probe als künstlerisch produktiver und Material generierender Ort.

Auratische Brechungen

Es scheint eine Praxis in der Musik zu geben, in der die Probenarbeit existiert, um sich der Partitur zu nähern. Die Partitur zu erfüllen. Die reine Auslesung eines Codes eines meist toten Menschen, dessen Ideal versucht wird möglichst getreu wiederzugeben. Dabei ist die Partitur, als Zeugnis oder Dokument dieser Person, größer und mehr als die tatsächliche Person selbst. Sie kann vielleicht als die Bestätigung eines gewissen kulturellen Erbes gesehen werden, dem durch die Perfektion des Vortrags im Konzert gehuldigt wird.

Dieser reinen, möglichst perfekten Erfüllung der Partitur als Hauptgrund und -gegenstand der Proben wollten wir sanft auf den Zahn fühlen. Die Probe nicht als bloßen Zweck zur möglichst perfekten Einstudierung des Werkes begreifen, sondern als Potenzial, in dem (auf den geprobten Partituren basierend) Klang entsteht. Innerhalb der vier Tage, die wir zusammenarbeiten konnten, entstanden somit Video- und Audioaufnahmen in den Proben, die unverändert, ungeschliffen und unperfektioniert im Konzert gezeigt wurden. Nach wie vor bewegten sich diese Imperfektionen in einem engen Rahmen (bevor wir zusammen arbeiten konnten probten oder/und kannten die Musiker*innen die Musik schon), dennoch entstand eine eindeutige Unmittelbarkeit und Leichtigkeit im Umgang mit der schweren Aura dieser Partituren.

Das Spiel mit der Aura verschiedener Aspekte des gesamten Konzert- und Musizierapparats war ein maßgeblicher Bestandteil der gesamten Arbeitsphase. Die Aura im Sinne Walter Benjamins (3) als ein Gespinst, eine fast esoterische Bedeutung eines Objekts, Kunstwerks, Naturereignisses. Eine Aura wird laut Benjamin einer Sache von Menschen verliehen und steht in Wechselwirkung mit Raum und Zeit, Ritual, Einzigartigkeit, historischer Bedeutung. Musikinstrumente sind Beispiele für auratische Objekte. Eine Geige, wertvolles, sorgfältiges, handgemachtes Objekt, an die sich eine gesamte kulturhistorische, soziale, politische Energie bündelt.

Die Aura der Instrumente wird in »Spiegel im Spiegel« auf zwei Arten erforscht und in die Performance als Videoprojektionen neben dem spielenden Avin-Trio eingebunden:

Zum einen eine Art Paartanz zwischen dem Performer und einer Geige. Der menschliche und der instrumentale Körper, die gemeinsam fallen, rollen, übereinander liegen und stehen. Die Geige wird neugierig als Objekt in Bewegungsabläufe integriert und als der Schwerkraft unterliegender, träger Corpus in den Körper des Performers eingefügt. Dabei wurde Kontakt vor allem mit Körperteilen gesucht, die traditionellerweise nicht zum Berühren einer Geige genutzt werden – alles außer den Händen. Eine Frage nach alternativen physischen Begegnungsmöglichkeiten mit einer Geige außerhalb ihrer funktionalen Verwendung als Musikinstrument (für das Projekt wurde eine Billiggeige genutzt, es kam kein wertvolles Instrument zu Schaden).

»Es kam kein wertvolles Instrument zu Schaden.«

Zum anderen war ein Teil der vier Residenztage im TONALi-Saal einer Bewegungsrecherche gewidmet, die gemeinsam mit den Musiker*innen durchgeführt wurde. Ohne Instrument wurden Bewegungen, die typischerweise am Instrument ausgeführt werden, untersucht. Als konzeptuelles Negativ der zuvor beschriebenen Situation, in dem funktionslose (auf das Musizieren bezogene) Bewegungen sich einem Instrument annäherten, wurden hier funktionale (auf das Musizieren bezogene) Bewegungen von einem Instrument abgelöst. Anstelle einer Choreographie und somit Ästhetisierung dieser Recherche wurde der gesamte Prozess aus einer totalen Perspektive gefilmt und im Zeitraffer in der Performance wiedergegeben.

Ein weiteres Schlüsselmoment und ein weiteres Negativ der Performance bildet eine Szene kurz vor Schluss: Scheinbar ohne irgendwelche choreographischen Verzerrungen spielt das Trio. In scheinbar traditioneller Aufstellung; das Publikum in scheinbar traditioneller Position; Licht, welches das Trio gut in Szene setzt, jedoch schlicht und unaufdringlich bleibt. Kurzum: Scheinbar ein ganz normales Konzert. Innerhalb der gesamten Dramaturgie jedoch nicht gemeint als Spiegel, in dem das Konzert seine eigene Tradition verankert, sondern lediglich als weitere Variation der Möglichkeiten, mit welchen ein Klaviertrio ein Musikstück vor einem Publikum präsentieren kann. Es ist nämlich nicht „ein ganz normales Konzert”. Man fand sich in einer Situation, in der drei Musiker*innen in einer spezifischen räumlichen Konstellation untereinander und zum Publikum orientiert sind: Mehrere Stuhlreihen, in denen ein Publikum mit Blickrichtung zu den Musiker*innen sitzen, die sich wenige Meter entfernt befinden. Hinten das Klavier parallel zum Publikum, links davor die Geigerin, rechts davor der Cellist.

»Hin und wieder tippen ihre Füße auf Schalter,

deren Funktion nicht unbedingt jeder Person klar ist.«

Die Geigerin und der Cellist sind einander leicht zugewandt, zusammen mit der Pianistin stellen sie drei Punkte eines annähernden Halbkreises dar, der sich zum Publikum hin öffnet. Vor ihnen stehen Notenständer, auf denen sich Tablets befinden. Die Musiker*innen bedienen ihre Instrumente mit sonderbaren Bewegungen, Gesten und Mimik, wobei Klang entsteht. Hin und wieder tippen ihre Füße auf Schalter, deren Funktion nicht unbedingt jeder Person klar ist. Das Publikum währenddessen, still lauschend und schauend. Die Szene ist ein Prototyp eines Konzerts, welcher idealerweise im Kontext der gesamten Performance, in der so viel Dekonstruktion stattfand, auf befremdliche Art vertraut ist und Details in der Performativität des Musizierens selbst sichtbar macht.

Die Performance endete abrupt, der letzte Satz Mozart nicht zu Ende gespielt, währenddessen der Performer und Helfer*innen schon Stühle stapeln und das Publikum bitten, aufzustehen und den Raum zu verlassen. Den Applaus vereiteln. //

Quellen

(1) https://chloerosser.com/product/form-function/ ("these contorted nudes delicately transform what should be intimately familiar into foreign sculptures”).

(2) Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion (1949); übers. Peter Stehlin.

(3) Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit