Datum
Mo, 29.8.2022

Kategorie
Interview

Projekt
TONALiSTEN Lab

Künstler*innen
Nina Gurol

Text
Merle Krafeld (VAN Magazin)

Fotos
Amelie Heinrich
Verena Bruening

Die Pianistin und ehrenamtliche Sterbebegleiterin Nina Gurol hat mit dem VAN Magazin über zwei Passionen und die Verbindungen, die aus ihnen entstehen gesprochen. Die künstlerische Verarbeitung von Sterbeprozessen hat Nina erstmalig im Rahmen des TONALiSTEN_Lab erprobt und entwickelt. Das Portrait ist am 1. Juni 2022 im VAN Magazin erschienen: Sonnenschein, rauschende Blätter, zeternde Vögel, eine Gruppe Jugendlicher, die kreischend Zweifelderball spielen, und mittendrin sitzen Nina Gurol und ich. Ihr Handwerk gelernt hat die Pianistin, geboren 1997, unter anderem bei Tamara Stefanovich, Pierre-Laurent Aimard und Maria João Pires sowie im Studium bei Gesa Lücker. Als Solistin und Kammermusikerin tourt sie sowohl international als auch regional auf Festivals wie ACHT BRÜCKEN in Köln, dem Bachfest Leipzig oder dem Klavierfestival Ruhr und arbeitet mit Komponist:innen wie York Höller zusammen. Außerdem kuratiert sie Konzerte, unter anderem bei den Weilburger Schlosskonzerten oder in Hamburg bei TONALi. 2019 machte Nina Gurol neben Klavierstudium und Auftritten eine einjährige Schulung zur Sterbebegleiterin, mittlerweile ist sie Teil des Vorstands des Hospiz Leverkusen e.V und in diesem Rahmen für neue Medien und kunstsoziale Projekte zuständig. Häufig ist auch das Musizieren für die oder mit den Sterbenden Teil dieser Begleitungen. Gleichzeitig fließt das Thema Tod auch mehr und mehr in ihre künstlerische Arbeit ein, in die Kuration öffentlicher Konzerte oder in Musikvermittlungsprojekte.

Nina Gurol spielt für die Bewohner*innen des Hospizes »Leuchtfeuer« in Hamburg, St. Pauli
Nina Gurol spielt für die Bewohner*innen des Hospizes »Leuchtfeuer« in Hamburg, St. Pauli

VAN: Du weist auf deiner Künstlerinnen-Website explizit auf deine Arbeit als Sterbebegleiterin hin. Das ist noch nicht lange so, oder?
Nina Gurol: Nein. Ich bin erst auch nicht darauf gekommen. Allerdings ist es mittlerweile einfach Teil meiner künstlerischen Identität und mein künstlerisches Projekt der nächsten Zeit: eine Verbindung zu schaffen zwischen meiner Arbeit als Pianistin und Sterbebegleiterin, die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Tod und der Trauer. Das war zu Anfang ehrlich gesagt auch nicht geplant: Als ich in die Sterbebegleitung gegangen bin, wollte ich eigentlich einen Ausgleich finden zur Musik, habe dann aber relativ schnell feststellen müssen: Kunst und Sterben gehen so Hand in Hand.

Was machst du genau in der Sterbebegleitung?
Wir sind ein ambulanter Hospizdienst, ich begegne den Sterbenden also im privaten Kontext zuhause oder in Pflegeeinrichtungen. Zu den Angehörigen habe ich natürlich auch Kontakt, die oft mit Fragen wie ›Was mache ich denn, wenn er oder sie heute Nacht stirbt?‹ auf einen zukommen, ich bin in der Sterbebegleitung trotzdem primär für die Sterbenden da. Es geht dabei um seelische Begleitung, also um das Dasein, um Zuhören, Sprechen, Ablenken, Spazierengehen. Ich begleite den letzten Lebensweg eines Menschen, die Begleitung endet also auch erst dann, wenn dieser Weg gegangen und der Mensch verstorben ist. Das kann mal wenige Tage oder Wochen dauern oder sich sogar über Monate strecken. So entstehen auch völlig unterschiedliche Bindungen zu den Menschen.

»Kunst und Sterben gehen so Hand in Hand.«

Begleitest du in erster Linie ältere Menschen?
Nur Erwachsene, allerdings kann es eine vierzigjährige Mutter mit zwei Kindern sein oder ein 98-jährige Herr, der fast darauf wartet, versterben zu dürfen. Es ist total gemischt – auch was das Krankheitsbild oder die Kommunikationsfähigkeit angeht. Ich habe auch schon einen Mann mit Downsyndrom und Demenz begleitet. Da war verbale Kommunikation fast unmöglich. Er hatte allerdings einen totalen Zugang über Musik, seine Mundharmonika immer mit dabei, und so haben wir dann kommuniziert.

Habt ihr dann zusammen improvisiert?
Genau. Er hat auch gerne gesungen und getrommelt, in seinem Zimmer gab es ein kleines Keyboard. So haben wir dann musizierend unsere Zeit miteinander verbracht. Das ist natürlich eine andere Begegnung als mit jemandem, der große Fragen stellt über das Leben und den Tod. Jede Begleitung ist auf so viele Arten unterschiedlich. Es gibt Menschen, die auf gar keinen Fall sterben wollen und den eigenen Sterbeprozess völlig von sich weisen, und andere, die nicht daran hängen, ob es heute so weit ist oder in zwei Wochen oder zwei Monaten.

Wie bist du zu diesem Ehrenamt gekommen?
Irgendwie war der Tod immer Thema. Auch aus privaten Gründen, weil ich schon früh in allen möglichen Szenarien damit konfrontiert war, von den Großeltern, die gestorben sind, bis hin zum Suizid einer guten Freundin. Der Tod war immer etwas, was ich ergründen wollte, und nie etwas, was ich völlig von mir geschoben habe. Und ich wollte auch wissen: Warum ist das Thema eigentlich so ein Tabu?

Also habe ich mich 2019 dazu entschieden, all meine Fragen nicht nur fiktiv zu beantworten, sondern sie richtig zu ergründen und das mit der Sterbebegleitung einfach mal anzugehen. Und es war die beste Entscheidung, es gibt mir total viel, auch künstlerisch. Das Lustige ist ja: Wir setzen uns als Musiker:innen in den Werken viel mit dem Thema Tod und Trauer auseinander, viele Meisterwerke stammen ja aus Krisenzeiten. Und da frage ich mich jetzt: Wie gehen wir mit solchen Werken auf der Bühne eigentlich um? Wie ehrlich ist da die Begegnung?

Und wie gehen wir damit um?
Ich glaube, dass wir oft nicht so ehrlich damit umgehen. Wenn man die Philharmonie geht und es wird beispielsweise eine von Chopins Klaviersonaten gespielt und die Leute gehen nachher raus und sagen: ›Ach, was für ein herrlich netter Abend!‹, dann denke ich immer: Naja, nett eigentlich nicht [lacht]. Wenn einen nachher nur die Virtuosität und Perfektion der Performance beschäftigt – hat das Konzert dann den Kern getroffen? Ist da überhaupt irgendwie angekommen, was der Komponist in das Stück gelegt hat?

Gleichzeitig will man den Leuten aber ja nicht zwangsweise die gute Stimmung versauen, oder?
Es geht nicht darum, Traurigkeit zu provozieren, das ist auch nicht richtig. Aber die Frage ist, wie viel Vulnerabilität wir im Konzertsaal eigentlich erleben wollen.

Als Künstlerin auf der Bühne? Oder im Publikum?
Sowohl als auch.

Und hast du schon Erfahrungen gemacht mit bestimmten Konzertformaten, die das mehr zulassen?
Ich glaube, es ist eine Grundsatzfrage ob man es zulassen möchte. Ich finde es spannend, die Themen Tod, Trauer und Sterben auch sehr bewusst mit in den Konzertsaal zu nehmen. Wenn wir beispielsweise den Marche Funèbre in Chopins Klaviersonate hören, dann nehmen wir die Auseinandersetzung mit dem Tod auf einer musikalischen Ebene vermutlich automatisch wahr, ohne dass es ausgesprochen wird. Oder bei Schuberts Sonate in a-Moll, da habe ich fast das Gefühl, dass er die fünf Sterbephasen vom Nicht-Wahrhaben-Wollen über die Wut, dem Verhandeln, der Depression bis hin zur Zustimmung und Frieden durchläuft.

»eigentlich gibt es kaum ein Thema, bei dem so klar ist,

dass es uns wirklich alle betrifft.«

Das Thema aber mal ganz bewusst mitzunehmen, macht das Konzert für mich zu einem sehr aufrichtigen, ganzheitlichen Erlebnis, sowohl menschlich als auch musikalisch. Und ich glaube, das gilt auch für das Publikum. Man betrachtet die menschlichen Hintergründe in der Musik ganz anders und enttabuisiert letztendlich diesen Aspekt unserer aller Leben. Wir fragen uns bei Konzertbesuchen ja häufig: Was hat das mit mir zu tun? Und eigentlich gibt es kaum ein Thema, bei dem so klar ist, dass es uns wirklich alle betrifft. Dem kann sich niemand entziehen. Es ist eine Art künstlerisches Forschungsprojekt von mir: das Thema mitzubringen, anzubieten und zu schauen, was passiert und wie sich das Konzerterlebnis verändert.

Auf der Homepage des Hospizvereins Leverkusen steht, dass du dort verantwortlich bist für kunstsoziale Projekte, was kann man sich darunter vorstellen?
Neben Konzerten und kleineren musikalischen Begegnungen im Rahmen des Vereins, ist gerade noch ein größeres Schulprojekt im Aufbau: über die Musik, welche ein perfektes Medium ist, das Thema aufzumachen, in Schulklassen zu gehen und gemeinsam mit den Schüler:innen nach einem künstlerischen Output zu suchen, wie man dem Tod und der Trauer begegnen kann.

In meiner Schulzeit gab es viele Todesfälle, nicht nur Schüler:innen selbst, auch Elternteile von Mitschüler:innen. Da stellt sich die Frage, wie man damit gut umgeht, auch als Klasse.

Und ansonsten mache ich in meinen Begleitungen viel Musik, mit den Sterbenden und für die Sterbenden. Natürlich drücke ich niemandem mein Repertoire auf. Ich gehe auf die Wünsche der Sterbenden ein und dann kann von AC/DC bis zur Opernarie alles dabei sein. Manche sagen aber auch: ›Ich mag lieber die Stille.‹

Wie schafft man es als Sterbebegleiterin, den Leuten wirklich das zu geben in ihren letzten Momenten, was sie wollen, und nicht das einzurichten, was man selbst für einen guten Tod hält?
Das erfordert viel Feingefühl und Sensibilität für den Menschen, dem man begegnet. Mich selbst stelle ich dann zurück. Natürlich macht man auch mal Fehler auf diesem Weg, aber auch da wächst man rein. Es ist eben ein Kennenlernen zunächst fremder Menschen, und das in ihrem intimsten Moment, in ihrer intimsten und vulnerabelsten Lebensphase. Das setzt voraus, das man nichts mitbringt außer einer totalen Offenheit. Auch wenn Menschen sich nicht mehr verbal äußern können, findet man recht schnell heraus, was ihnen gut tut, wenn man nur genau beobachtet. Und klar gibt es auch Situationen, in denen man einfach mal angemeckert wird und die unmittelbaren Emotionen der Menschen abbekommt. Aber es ist ja auch ok, wenn sie mal schlecht drauf sind. Dann ist man einfach da und wenn es dann doch noch etwas zu sprechen gibt, dann ist es ok, und wenn man eine Stunde gemeinsam schweigt, hält man auch das aus. Manchmal hält man einfach auch gemeinsam die Wut des Sterbenden auf die Welt aus – weil er es vielleicht einfach gerade so gemein findet, gehen zu müssen. Sterben ist nie gemütlich, es hat immer eine schmerzhafte Komponente. Die Frage ist nur, wie man ihr begegnet.

Wie organisierst du Sterbebegleitung und Konzertreisen oder Projekte? Einen Tod kann man ja nicht planen.
Ich bespreche mit den Menschen, was ihnen in der Begleitung wichtig wäre, und auch ob sie wünschen, dass ich da bin, wenn es akut wird. Oder wer da vielleicht sonst da sein soll – oder eben auf keinen Fall – und wie überhaupt meine Rolle aussieht in der Sterbebegleitung. Was sind Wünsche und wie kann ich unterstützen? Planen kann man es natürlich trotzdem nicht. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten, als immer in Präsenz vor Ort zu sein. Besonders bei längeren Begleitungen, wenn man sich schon gut kennt. In der Coronazeit zum Beispiel, als man nicht in Seniorenheime gehen konnte, haben wir dann eben eine Stunde telefoniert. Aber man darf sich als Sterbebegleiterin auch nicht grämen, wenn man den Sterbemoment verpasst. Sterben müssen wir im letzten Moment alle alleine, denn über die Schwelle kommt niemand mit. Es geht darum, das gut vorzubereiten. Und da finden sich schon Wege.

Sterbebegleitung kann man wahrscheinlich nicht so nebenbei und mit tausend anderen Dingen im Kopf machen. Wie kriegst du Ehrenamt und Studium zusammen?
Ich finde die Tätigkeit ehrlich gesagt so bereichernd, dass sie mich – auch mit vollem Kopf nach einem schlechten Tag, an dem ich mich in meinem Überaum gegrämt habe – total rausholt und erdet. Es ist alles andere als ›noch ein Termin‹, ich lasse dann selber alles los, weil es um etwas so Wesentliches geht und es eine so wahnsinnig ehrwürdige Aufgabe ist. Und das ist total erfüllend. Deswegen freue ich mich immer auf meine Begleitungen: aus meiner crazy Künstler:innen-Bubble zu jemandem zu gehen, bei dem es gerade um das ganz Wesentliche geht.

Du hast bisher, als es um die Konzerte außerhalb der Sterbebegleitung ging, von Schubert und Chopin gesprochen, ich denke beim Thema Tod auch zuerst an romantisches Repertoire. Spielst du in öffentlichen Konzerten, in denen du dich inhaltlich mit Sterben auseinandersetzt, auch Neue Musik?
Ja, natürlich. Ich habe manchmal das Gefühl, dass es, wenn man dann auch noch ausschließlich dunkles Repertoire spielt, so viele Fässer aufmachen kann, dass man sich als Publikum wieder davor scheut, sich darauf einzulassen und, dass es auch ein falsches Bild zeichnet. Musik öffnet, so melodramatisch es auch klingt, nun einfach noch einmal sehr viel unmittelbarer den Zugang zu Emotionen. In der Auseinandersetzung mit dem Tod geht es ja aber auch nicht nur um Trauer und Schwere. Im Gegenteil, in Sterbeprozessen geht es oft mehr um das Leben als um den Tod, das geballte Leben mit allem, was dazu gehört. Neue Musik wirkt für viele häufig erstmal distanzierter, weil die Klangsprache einen vielleicht nicht so unmittelbar berührt, aber sie ermöglicht im Laufe der Zeit einen anderen, vielleicht sogar viel offeneren Zugang.

Hast du das schonmal ausprobiert im Konzert?
Letzte Woche habe ich in Köln im Sancta Clara-Keller, einem alten Klosterkeller, zum Beispiel die zwölf Preludes von Galina Ustvolskaya gespielt, die sind schon abstrakter, man hört die Trauer, den Schmerz, die Sinnsuche nicht unbedingt sofort. Im Saal kann es dann erstmal etwas unruhig werden, das Publikum fragt sich: Was soll das denn? Irgendwann habe ich dann aber doch das Gefühl, dass sie sich doch darauf einlassen können und merken: Es bringt total viel von den Themen mit, nur auf eine andere Art und Weise. Dann ist es eben nicht der Trauermarsch, den alle sofort erkennen. Die Frage ist dann eher: Was macht diese Klangwolke mit mir und wohin holt sie mich ab? Ich verstehe es dann mehr als eine Einladung an das Publikum, diese Werke gemeinsam mit mir zu ergründen und sich während des Konzerts auf eine gemeinsame Suche zu begeben, statt einer unmittelbaren Konfrontation.

»Der Umgang mit Tod und Trauer ist sehr individuell und

diesen Raum möchte ich auch im Konzert gewähren.«

Wie bringst du die Themen Sterben und Trauern ins Konzert? Schreibst du sie aufs Programmheft? Oder über Moderationen?
Das letzte Konzert in Köln hieß end:licht, daran konnte man es vermutlich schon erahnen. Ich habe also nicht direkt ›Es geht um Trauer und Versterben‹ aufs Programmheft geschrieben, aber ich glaube, das hat sich schnell ergeben. Ich habe das Konzert moderiert, aber eher grundsätzliche Fragen gestellt: nach Vergänglichkeit, Sinnfragen, wo ist unser Platz im Leben? Über all diese Themen sind wir dann bei der eigenen Vergänglichkeit gelandet. Der Umgang mit Tod und Trauer ist sehr individuell und diesen Raum möchte ich auch im Konzert gewähren.

Du spielst ja auch ›ganz normale‹ Konzerte als Klaviersolistin, kürzlich zum Beispiel das Ravel-Klavierkonzert mit den Lüneburger Symphonikern. Nimmst du von deinem Forschungsprojekt auch was in solche Konzerte mit?
Früher habe ich die Konzerte, die ich selbst gestalte, und ›die anderen‹ noch stärker getrennt. Mittlerweile nehme ich davon viel mehr mit und es gibt mehr Überschneidungspunkte. Es geht dabei auch nicht immer nur um Trauer, Sterben und Sterbebegleitung, sondern grundsätzlich um menschliche Themen. Auch in Liebesbeziehungen oder Trennungen geht es ja viel um das Loslassen und Trauer. Was in der Sterbephase passiert, ist eine Kulmination von Themen, die uns konstant im Leben begegnen.

Welche Konzerte oder Konzertformate planst du für die Zukunft?
Das Konzert ›Conversation X‹ bei den TONALiSTEN war ursprünglich multimedial gedacht, mit einer Video- und Audioinstallation mit Stimmen von Sterbenden und Angehörigen, das war wegen Corona in der Form noch nicht möglich. Diese Erweiterung wird dann im September diesen Jahres stattfinden, beim Beethovenfest in Bonn.

Es wird für mich aber auch darüber hinaus ein langfristiges, künstlerisches Forschungsthema bleiben – zum Beispiel auch mit der Frage: ›Wie unterschiedlich sind eigentlich Trauerrituale auf der Welt und wie spiegelt sich das in der Trauermusik wider?‹

Gibt es da Aspekte, die dich besonders faszinieren?
Viele natürlich, aber zum Beispiel der Umgang mit dem toten Körper, welcher in vielen Kulturen als unrein gilt. Aber auch das Maß an Selbstverständnis und Offenheit im Umgang mit Toten. In Jamaika gibt es beispielsweise eine neuntägige Totenwache durch Verwandte und Angehörige. So ist es eine Selbstverständlichkeit, dass auch Kinder bereits mit Toten in Kontakt kommen.

Hier in Deutschland ist ohnehin alles sehr diskret und findet viel weniger öffentlich statt. Man versteckt sich still hinter der Sonnenbrille, es darf eigentlich nur drei Tage möglichst privat getrauert werden und dann muss man wieder ab zur Arbeit und bestmöglich funktionieren. In Ägypten zum Beispiel wird laut klagend getrauert, das ganze Leid muss raus, und Mexiko hat den Toten sogar einen ganzen Feier- und Festtag gewidmet. Früher war das in Deutschland aber auch anders: Da wurde der oder die Tote zuhause aufgebahrt und alle sind nochmal vorbeigekommen. Oder man hat sie sogar auf einen Bollerwagen gepackt und nochmal eine Runde durchs Dorf gedreht, damit sich alle, die wollen, verabschieden können. Heute ist es oft so: Der Leichenwagen soll nur möglichst kurz vor der Tür stehen, damit die Nachbarn ja nicht zu lange damit konfrontiert sind, dass jemand gestorben ist. Nicht, dass sie auch noch an ihre eigene Vergänglichkeit erinnert werden. Und auch musikalisch haben wir hier in Westeuropa den typischen Trauermarsch, der ja auch schon eine Haltung vorgibt.

Werden in Deutschland auch die Sterbenden schon wie die Toten aus dem Blick geschoben?
Leider passiert das noch viel zu häufig und es wird immer öfter sehr einsam gestorben. Sobald es um den Tod geht, schauen die meisten Menschen peinlich berührt weg, als hätte es mit ihnen nichts zu tun. Es ist fast so, als sei das Sterben Privatsache geworden. Ich erlebe es in Begleitungen auch oft, dass die Sterbenden ein schlechtes Gewissen haben, sich nahezu schämen, dass sie sterben müssen und dadurch ihre Angehörigen belasten. Das macht mich traurig, denn eigentlich würde ich mir wünschen, dass man den Austritt aus dem Leben genauso würdigt wie den Eintritt ins Leben. Ich glaube, dass es die Angst vor dem Tod nehmen kann, wenn wir die eigene Vergänglichkeit auch zu Lebzeiten schon bewusst annehmen und den Tod genauso integrieren, wie das Leben auch in Sterbeprozesse integriert wird.

Was ist für Dich ›gutes Sterben‹?
›Gutes Sterben‹ bedeutet für mich vor allem bewusstes und friedliches Sterben. Aber es ist natürlich wahnsinnig individuell, die meisten Menschen wünschen sich einfach möglichst beschwerdefrei und insbesondere ohne Schmerzen sterben zu dürfen. Gott sei Dank leistet die Palliativmedizin da heutzutage schon einen hervorragenden Job.

Wie würdest Du sterben wollen? Und mit welcher Musik?
Heute würde ich mir wünschen, in meinem eigenen Sterbeprozess irgendwann genug Zeit zu haben, um ihn bewusst durchlaufen zu können und dann würde ich gerne im Freien friedlich eins mit der Natur werden. Vermutlich alleine, nur mit Naturgeräuschen und dem dritten Satz aus Emilie Mayers Klaviersonate. Aber vielleicht ändert sich das morgen auch schon wieder.

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