Date
Thu, 15.12.2022

Categorie
Film

artists
Nadja Reich

Die Coronapandemie erzwang einen Rückzug in unsere geschützten Privaträume und machte kollektiv erfahrbar, wie ambivalent dieser Ort sein kann: Das gesamte Leben wurde in die eigenen vier Wände verlagert – ein Ausbruch war (fast) unmöglich. Das Gefühl der Sicherheit ging dabei aber auch einher mit dem Erlebnis eines gesellschaftlichen, kulturellen und musikalischen Stillstands.

Das Spannungsfeld dieser Erfahrung veranlasste das künstlerische Kollektiv um die vier Musiker:innen der Akademie der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und den Konzertdesigner Lukas Senn, sich mit dem Verhältnis von Sicherheit und Stillstand, Risiko und dem Entstehen von Neuem auseinanderzusetzen: Wo bleiben wir in Mustern und vermeintlichen Sicherheiten gefangen? Wo trauen wir uns, unsere Haltungen zu hinterfragen? Was kann im Wagnis und im Moment des Aufbrechens alles ent:stehen?

Das Ergebnis: Ein Experiment an der Schnittstelle zwischen Konzert, Performance und Film, das in der Musik, den Arbeitsweisen, in der Szenerie und den Zeiträumen diese Fragen und Polaritäten erforscht.

Ausgehend vom Adagio aus Haydns Streichquartett Op.54, Nr. 2 führt der Film in eine Welt voller enigmatischer Muster und Abläufe. Während die erste Geige suchend über immer wiederkehrende Harmonien des Quartetts reflektiert, bleiben die Performer:innen in ihren Routinen und Sinnstrukturen verhaftet. Der Ausbruch aus dem sicheren Ort der gewohnten Muster vollzieht sich tänzerisch und musikalisch improvisierend: Während die Musik Haydns langsam zerfällt und schließlich verschwindet, folgt die Performerin Maria Novella Tattanelli ihrer Neugier und erschließt sich eine neue Welt, die ihre Entsprechung dann auch musikalisch im Streichquartett Alfred Schnittkes findet.

»Ein gebrochener Haydn in einem in die Brüche gehenden Gebäude. Freude und Schmerz, die physisch erlebbar waren.«

Anne Taegert, Tonmeisterin

Die Besonderheit des Projektes: Nicht nur die künstlerische Performance beschäftigt sich mit dem Verlassen gewohnter Strukturen; der gesamte Entstehungsprozess des Films war darauf ausgelegt, bei allen Beteiligten ein wirkliches Durchbrechen und Überschreiten gewohnter Abgrenzungen und Gewohnheiten zu evozieren und dadurch eine neue ästhetische Erfahrung zu ermöglichen. Die Zusammenarbeit verlief in einem kollektiven Prozess mit großen improvisatorischen Anteilen. So mussten alle Beteiligten vor oder hinter der Kamera aufeinander reagieren und sich mit voller Risikobereitschaft auf das Experiment einlassen. Die Arbeitsweise des Kollektivs, die Musik und Kulisse umarmen das Risiko einer Unvorhersehbarkeit.

Der Film „ent:stehen“ lädt dazu ein, die eigenen (Hör-)Gewohnheiten zu reflektieren und lotet die Möglichkeiten der digitalen Musikdarstellung aus: Die Kombination der unterschiedlichen Blickwinkel der beteiligten Kunstformen ermöglicht ein multiperspektivisches Film- und Musikerlebnis.

»The synergy of these fragments, of everyone's artistic expression, found a place in the collective imagination creating a new dimension, a lived and shared reality.«

Maria Novella Tattanelli, Performerin

Stimmen

»Mine is a simple thought contained in the memory of this suspended experience in which we found ourselves sharing a fragment of us. The synergy of these fragments, of everyone's artistic expression, found a place in the collective imagination creating a new dimension, a lived and shared reality. This for me was a source of interest and a real perspective of the work we made.«
Maria Novella Tattanelli, Performerin

»Die Umsetzung des Projektes selbst hat uns alle dazu bewegt, uns aus unserem sicheren Ort, der gewohnten Aufführungspraxis, hinauszubewegen, und anderen Menschen zu vertrauen, unser ursprüngliches Konzept auch zu ihrem zu machen und ein gemeinsames Erlebnis zu kreieren, welches erst in jenem Moment entstehen konnte, als wir alle uns auf jenen Ort eingelassen und auf uns gegenseitig verlassen haben.«
Alma Micke, Violine

»Wie ich die Produktion erlebt habe – mit großer Stärke gespielte Musik unter extremen Bedingungen. Ein gebrochener Haydn in einem in die Brüche gehenden Gebäude. Freude und Schmerz, die physisch erlebbar waren – als ob die Umgebung die extremen Momente im Ensemble noch extra herauskitzeln würde. An das Projekt werde ich mich lange erinnern.«
Anne Taegert, Tonmeisterin

Beteiligte

Performance:
Maria Novella Tattanelli
Michael Kaddu
Raquel Lanziner
Marcel Ruben Schoen

Streichquartett:
Alma Micke, Geige
Teresa Simone, Geige
Sebastian Steinhilber, Bratsche
Nadja Reich, Cello

Konzeption und Produktionsleitung:
Lukas Senn

Filmische Umsetzung und Regie:
Anselm Belser

Steadicam Operator:
Kevin Bose

Kameraassistenz:
Leo Schmidt

Tonmeister*innen:
Anne Taegert
Carlo Grippa

Musik

Joseph Haydn
Streichquartett Op. 54 No. 2, Hob. II:57
II. Adagio

Alfred Schnittke
Streichquartett Nr. 3
I. Andante