Date
Mon, 7.4.2025

Categorie
Interview

Text
Sören Ingwersen

Fotos
Thi Thuy Nhi Tran
Swanhild Kruckelmann

Das Kunstlied – Spiegel einer vergangenen Zeit und doch überraschend aktuell. Johannes Worms und Nasti laden ein zu einem Abend, der bekannte und neue Werke aus einer ungewohnten Perspektive betrachtet. Ein kurzer Blick in den Kunstliedkanon offenbart viel über historisch gewachsene, traditionelle Männlichkeiten und binäre Rollenbilder. Viele Lieder repräsentieren ein tief verankertes Bild männlicher Dominanz und Macht – Frauen werden häufig stereotypisiert und herabgewürdigt. Gleichzeitig nutzen Komponist:innen im Kunstlied das Potenzial, starre Rollenvorgaben zu unterwandern und zeigen emotionale Tiefe, Verletzlichkeit und Zärtlichkeit. So öffnen sie einen Raum, in dem Grenzen verwischen und queere Utopien greifbar werden. In einer Mischung aus klassischem Liedgesang, Live-Elektronik und moderierten Einblicken schaffen Johannes Worms und Nasti eine Atmosphäre, die an historische Schubertiaden erinnert: einen intimen Raum des gemeinsamen Hörens und Reflektierens, in dem nicht nur Musik, sondern auch Fragen nach Geschlechterrollen und Normen Platz finden.

Das Interview wurde für das Magazin der TheaterGemeinde Hamburg e.V. geführt und dort veröffentlicht. Das Konzert findet in Kooperation mit TONALi und den TONALiSTEN statt.

Nasti und Johannes, in eurem Liederabend „Speak Low“ geht es um „Männlichkeiten und queere Utopien“. Das hört sich sehr zeitgemäß an. Im Programm finden sich aber größtenteils Lieder von männlichen Komponisten aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Inwieweit scheinen darin bereits queere Utopien auf

Johannes:
Wir haben uns für dieses Programm mit diesem Titel entschieden, weil wir mit dem gängigen Konzertrepertoire dasselbe Unbehagen haben wie mit der Gesellschaft, in der wir leben: Es gibt hier wie dort problematische Züge von Geschlechtlichkeit und traditionell definierter Männlichkeit. Deshalb war es uns wichtig, dieses kanonische Repertoire aufzunehmen und den männlichen Blick darin aufzuspüren.

Den männlichen Blick, ja. Aber queere Utopie?

Johannes:
Heute reden wir sicher in einem anderen Verständnis über Queerness, als das im Biedermeier der Fall war. Aber aus gegenwärtiger Perspektive betrachtet, sind sehr viele Lieder, die wir aufführen, und auch die Kontexte, in denen sie damals entstanden sind, queer kodiert. Mit „Speak Low“ versuchen wir, diese Codes, die für uns heute oft schwer verständlich sind, zu entziffern. Inwiefern können wir darin freiheitliche Äußerungen finden? Inwiefern gibt es in diesen Vertonungen schon einen Willen zum nicht-konformen oder widerständigen Ausdruck? Im Titelsong unseres Programmes heißt es: „Speak low when you speak, love“. In dieser Zeile steckt viel von dem, was der Abend transportieren soll – eine zerbrechliche und poetische Art, Geschlechtlichkeit und Miteinander zu reflektieren und zu verhandeln.

Nasti: Queere Utopien und alternative geschlechtliche Ausdrucksformen gab es schon immer. Auch zur Zeit Schuberts. In den historischen Schubertiaden haben sich Menschen getroffen, die sich von der Zensur und Unterdrückung in kleine Runden zurückgezogen haben, um hier ihre gesellschaftlichen Bedürfnisse ausleben zu können. Dabei spielte der Blick in die griechische Mythologie eine große Rolle. Der Halbgott Memnon war eine wichtige Identifikationsfigur, dem Schubert ein Lied gewidmet hat. Ein neueres Lied stammt aus William Bolcoms Sammlung „Cabaret Songs“: Georgia, die wohl eine Trans-Frau ist, wird darin ermordet. Trotzdem ist das Lied sehr bestärkend. Wir bewegen uns also über Epochen hinweg in diesen Safe Spaces, die queere Menschen sich immer wieder geschaffen haben, um dort ihre Erfahrungen zu teilen und sich gegenseitig zu ermutigen.

»Uns wurde gesagt, unser Programm ‚Speak Low‘ sei zu politisch, obwohl dieser Abend wirklich sehr weich, zärtlich und persönlich ist.«

Nasti

Diese Zusammenhänge werdet ihr im Konzert auch erläutern?

Nasti: Ja, es ist ein sehr Community-orientiertes Projekt, mit dem wir die Menschen an die Hand nehmen. Wir verteilen zum Beispiel auch Kostümteile, um gemeinsam ein Gefühl dafür zu entwickeln, worum es gerade geht. Und es kommen auch Menschen zu Wort, die wir interviewt haben. Um Stimmungen zu unterstützten, arbeiten wir teilweise mit Live- Elektronik.

Johannes: Kunstlieder transportieren viele Informationen. Man muss beim Zuhören in kürzester Zeit sehr viel Text aufnehmen. Deshalb wollten wir Momente zum Innehalten schaffen, in denen man das Gehörte verdauen kann.

Im 19. Jahrhundert, zur Blütezeit des Kunstlieds, entsteht ein neuer bürgerlicher Künstlertypus, der auch sein mögliches Scheitern thematisiert, der seine Melancholie und Einsamkeit, seine Armut oder Verzweiflung zur Schau stellt. Bekommt dort das tradierte Bild von Männlichkeit bereits erste Risse?

Johannes: Ganz genau. Ich glaube, deswegen spüren wir beide auch eine intuitive Verbindung zu diesem Repertoire. Das Nachdenken darüber, was ich empfinde und fühle, könnte man als einen psycho- logischen Schritt betrachten, der das traditionelle Bild des starken Mannes unterläuft. Diese Gedanken aufzuschreiben und dann auch noch aufzuführen, könnte man als einen Akt der Befreiung betrachten.

Als wie durchlässig empfindet ihr die Klassikszene, die gemeinhin als konservativ gilt, für gesellschaftliche Transformationsprozesse, wie ihr sie mit eurem Programm anstoßen möchtet?

Nasti: In den ersten Jahren nach meinem Coming-out als nicht-binäre Transperson, auch auf der Bühne, wurde ich sehr oft überhaupt nicht verstanden. Veranstaltende Menschen repräsentieren oft eine bestimmte Klasse, ein bestimmtes Alter und bestimmte Ansichten. Mehrmals wurden die Pronomen dey/ deren in meiner Biografie einfach umgeschrieben, und auch die Presse hat öfters falsche Pronomen benutzt. Uns wurde gesagt, unser Programm „Speak Low“ sei zu politisch, obwohl dieser Abend wirklich sehr weich, zärtlich und persönlich ist. Zwar sind die Menschen offener geworden, weil der Gender-Diskurs inzwischen auch im Mainstream angekommen ist, aber wir sehen ja, welche politischen Bewegungen sich in Deutschland und global abzeichnen. In Zeiten wie diesen wollen wir der Community, die gerade sehr viel Angst empfindet, einen Raum zum Mit- fühlen und Zusammensein eröffnen. Genauso wichtig ist uns natürlich das „klassische Publikum“. Wir möchten ein gemeinschaftliches Erlebnis mit ganz vielen unterschiedlichen Leute schaffen.

»Wir müssen wirklich aufpassen auf unsere Demokratie«

Johannes Worms

Im Januar wurde ein amerikanischer Präsident vereidigt, der ein erklärter Feind von Diversität und Gender-Gerechtigkeit ist. Habt ihr Befürchtungen, dass diese neue Anti-Wokeness-Welle nach Europa über- schwappt?

Nasti: Diese Welle ist schon längst in Europa angekommen. Mit den Kürzungsbeschlüssen des Berliner Senats wurden zuerst Diversitätsstellen gestrichen und alle queeren Jugendzentren in Berlin geschlossen. Es gibt dort keinen Anlaufpunktunkt mehr für junge queere Personen, um sich Hilfe zu holen.

Johannes: Ein weiteres Beispiel ist das Impuls Festival in Sachsen-Anhalt, dem die CDU auf Druck der AfD die Förderung gestrichen hat. All diese Dinge passieren bereits und machen es uns schwer, weil Veranstaltende dann auch Angst haben, politische Künstler*innen einzuladen. Wir müssen wirklich aufpassen auf unsere Demokratie.

Video: Florian Schmuck

Nasti, seit rund vier Jahren stehst du mit diesem Namen und sichtbar genderqueer auf der Bühne. Warum war dir dieser Schritt wichtig?

Nasti: Lange Zeit habe ich mich nicht getraut, meinen Namen zu ändern, mit dem ich schon so oft aufgetreten war. Dann kam diese lange Corona-Pause, die mir das Gefühl gab, endlich neu anfangen zu können. Für meine persönliche Entwicklung war das eine große Hilfe, denn ich habe es wirklich nicht mehr ausgehalten. Auch meine Soloabende sind sehr persönlich. Ich moderiere viel und erzähle, was mich bewegt, was in der Welt passiert, warum ich Dinge zusammenfüge. Das setzt voraus, dass mensch sich selbst gegenüber und anderen ehrlich ist.