Datum
Mi, 22.3.2023

Kategorie
Interview

Projekt
TONALiSTEN Lab

Künstler*innen
Kiveli Dörken

Text
Antonia Schughart

Fotos
Amelie Heinrich
Philipp von der Dellen

Schamanismus trifft Klassik und Konzert trifft Ritual. Im Rahmen des TONALiSTEN_Lab verwebt Kiveli Dörken diese Welten miteinander. Sie ist an dem Abend, der den mystischen Titel »Eleusinian Mysteries« trägt, sowohl Pianistin als auch Ritualleiterin einer schamanischen Reise. Wenig erinnert dabei an ein gewohntes Konzertsetting: Tarotkarten, Tee, Yogamatten statt Stühlen, Meditationen und Gesprächsrunden kreieren einen Raum jenseits von Konventionen – geblieben ist die klassische Musik. Mit Werken von Bach und Beethoven begeben wir uns auf die Reise ins Innere, überschreiten die Grenze zum Unterbewusstsein und kehren verwandelt zurück. Noch Fragen? Definitiv! Im Gespräch spricht Kiveli von ihren Rollen im Konzert, gibt Einblicke in ihre Gedanken und Erfahrungswelten zum Schamanismus und verrät, warum Bach und Messiaen sich besonders gut für eine transformative und bewusstseinserweiternde Konzerterfahrung eignen.

Das Interview wurde im Dezember 2022 geführt.

Antonia: Dein Konzert wird beschrieben als „Konzert nach schamanischem Ritual“. Kannst du erzählen, was wir uns unter Schamanismus überhaupt vorstellen können?
Kiveli: Ja, gerne. Allgemein gibt es nirgendwo eine Definition, auf die sich alle geeinigt haben. Das ist auch eine der großen Herausforderungen in diesem Bereich. Es ist ein Wort, welches extrem aufgeladen ist mit Vorstellungen und Ideen. Ich benutze es hauptsächlich für Leute, die sich in der Vergangenheit sowohl mit dem spirituellen und psychischen Wohlbefinden ihrer Gesellschaft und ihrem Umfeld als auch mit der eigenen psychischen Orientierung durch rituelle Handlungen beschäftigt haben. Zu einer Zeit, bevor die Weltreligionen führend in der Welt waren. Das waren die Schamanen ihrer Gesellschaft. Und Schamanismus ist keine in sich homogene Religion mit Entitäten, an die man glaubt oder nicht glaubt. Es ist ganz einfach der Name für den Prozess, mittels ritueller und bewusstseinserweiternder Handlungen zur Erleuchtung zu kommen und zu sich selbst zu finden.

Welchen kulturellen Hintergrund hat der Schamanismus, wo verortest du dich?
Es gab diese Art von rituellen Handlungen tatsächlich in fast allen Kulturen. Eine der Kulturen, die mir besonders bekannt ist (weswegen ich auch das Konzert so genannt habe), ist die griechische Kultur. Im antiken Griechenland, als das demokratische Athen am Blühen war, gab es einen Ort namens Eleusis, der in mehreren Stunden zu Fuß von Athen aus erreichbar war. An diesem Ort gab es die sogenannten kleinen und großen Mysterien. An diesen Mysterien hat eigentlich jeder einmal im Leben teilgenommen – zuerst an den kleinen und dann an den großen Mysterien. Man durfte nicht darüber sprechen, was dort passierte, darauf stand die Todesstrafe. Die großen Mysterien waren ein Event von fünf Tagen, für die man nach Eleusis pilgerte. Den Höhepunkt bildete das gemeinsame Einnehmen eines Tranks und verschiedene Rituale. Mittlerweile weiß man, dass bestimmte Elemente der Mysterien schamanischen Herangehensweise sehr ähneln. Zentral ist bei beiden, sich Zeit zu nehmen sowie einen Ort und ein Ritual zu suchen, um sich mit seiner eigenen Psyche und seinem Innenraum zu beschäftigen.

»In diesem Konzertformat sollen zwei Sachen im Zentrum stehen: die Musik und Du«

Du erzählst in dem Video zum Konzert, dass du den Schamanismus über deinen Vater kennengelernt hast. Wie bist du damit in Berührung gekommen?
Also in meiner Kindheit noch gar nicht, weil mein Vater selbst erst später zu diesem Thema gekommen ist. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon kein Kind mehr. Mein Vater hat in den USA in San Diego gelebt, als ich aufgewachsen bin. Dort hat er den Schamanismus für sich entdeckt, weil er jemanden kennengelernt hat: Ralph Metzner. In den 60er-Jahren gab es noch eine große Welle an Forschung zu der Frage, wie man schamanische Rituale in die Gesellschaft integrieren kann, um zum Beispiel mit Erkrankungen wie bspw. Depressionen umzugehen. Diese Forschung wurde dann jedoch komplett verboten, speziell wenn es um bestimmte Substanzen ging. Es gab aber ein paar Personen, die damals die Forschung weiter betrieben haben. Einer davon war der Schweizer Ralph Metzner. Dank ihm ist mein Vater in diese Welt hineingetaucht. Ich bin damit in Verbindung gekommen, als ich ihn in Amerika besucht habe. Das war in einer Zeit, in der sich in meinem Leben sehr viel verändert hat: Die Phase zwischen Pubertät und Erwachsenwerden, in der man sich irgendwie selbst finden will. Damals hat mein Vater eine schamanische Reise mit mir gemacht, bei der es darum ging, an sich selbst zu arbeiten und auch unbequeme oder unerreichbare Wahrheiten in sich zu konfrontieren. Das war für mich ein Schlüsselerlebnis, das viele positive Wendepunkte in mir hervorgerufen hat. Viele Jahre war das eine Sache, die mein Vater gemacht hat. Ich habe zum Schamanismus also eine sehr familiäre und authentische Beziehung gefunden. Das hat dazu geführt, dass ich meinen Vater gefragt habe, ob er mir beibringt, wie man diese Reisen selbst leitet. Und das lerne ich auch immer noch, das ist ein individueller Prozess, in dem ich mich seit mehreren Jahren befinde.

Das heißt, du nutzt den Schamanismus vor allem, um etwas über dich selbst herauszufinden?
Genau deshalb. Es ist kein Tool, das man jede zweite Woche, wenn man kurz nicht gut drauf ist, benutzen sollte oder könnte. Ich könnte das nicht – vor allem nicht in meinem Lifestyle, der doch sehr durchgetaktet und voll ist. Aber wenn es etwas gibt, das einen Teil von mir betrifft, der für mich nicht so erreichbar ist, wie bspw. tief liegende Angewohnheiten, mit denen ich nicht glücklich bin oder vielleicht auch Dinge, die meine Kindheit betreffen, komme ich alleine über einen bestimmten Punkt nicht hinaus. Dann lohnt es sich für mich immer, eine schamanische Reise zu planen. Das passiert oft nur einmal im Jahr. Aber auf diesen schamanischen Reisen habe ich wirklich sehr oft erlebt, wie ein Quantensprung stattfindet in dem Bereich, an dem ich gerade arbeite.

Das klingt sehr intensiv und emotional. Was gehört zu einem solchen Ritual und wer ist Teil davon?
Die schamanische Reise hat drei Säulen, die von Bedeutung sind: Die erste Säule ist die Art und Weise, wie du in den Zustand der Bewusstseinsveränderung kommst. In unserem Konzertprojekt geschieht das beispielsweise durch die Musik. Die zweite ist das Setting: der Raum und wie sich dieser anfühlt. Die dritte Säule ist das Set – und das Set bist Du. Das ist das Allerwichtigste: Wie du dich fühlst und ob du mit Neugier und Offenheit auf die Erfahrung zugehst. Ich würde keinem empfehlen, sich darauf einzulassen, der nicht wirklich da sein will. Das ist natürlich meine persönliche Meinung, die aber auf Erfahrungen basiert, die ich gesammelt habe: Wenn es um diese verwundbaren, komplexen Herausforderungen geht, ist oft nicht das größte Problem, dass wir sie adressieren, sondern dass wir diese eben nicht ansprechen. Denn dann entwickeln die Herausforderungen manchmal ein Eigenleben und schlechte Angewohnheiten schleichen sich ein, die alle Bereiche des Lebens durchfluten. Meistens ist es so, dass sobald man sich dafür entscheidet, eine Herausforderung bewusst, objektiv und ehrlich anzuschauen, ganz viel Positives passieren kann.

Du bist in dem Konzertprojekt sowohl Pianistin als auch Ritual-Leiterin. Warum hast du dich für ein solches Format entschieden und welche Elemente des klassischen Konzertes hast du eingebracht, beziehungsweise welche nicht?
Ich habe als Musikerin fast mein ganzes Leben lang Konzerte gespielt und dabei hatte ich schon ein paar unfassbar wertvolle und unvergessliche Momente mit Musik – sowohl im Konzertsaal als auch in ganz anderen Settings. Ich habe selbst erlebt, wie tief Musik beim Zuhören in uns eindringen kann und welche Veränderungen dadurch hervorgebracht werden können. Das verbinde ich sehr stark mit Verwundbarkeit, – das passiert nicht jedes Mal, wenn du Musik hörst. Das heißt, dass es Elemente außerhalb der Musik gibt, die ein solches intensives Erlebnis unterstützen können oder ihm im Weg stehen. Mein Anliegen in diesem speziellen Konzert-Konzept ist es, all die Elemente beizubehalten, die Verwundbarkeit im Hören unterstützen und Elemente zu eliminieren, die dem im Wege stehen. Das ist auch der Grund, warum ich eine Symbiose mit dem schamanischen Ritual versucht habe. Das schamanische Ritual bietet oft die perfekte Umgebung, um auf das eigene Innenleben zu schauen. Das heißt, auf ein Setting, bei dem die Leute bei sich sind, stiller werden, eine introspektive Haltung einnehmen und sich bewusst auf das Kommende vorbereiten.

Welche Bedeutung nimmt das Zuhören in deinem Konzert ein? Und welche Rolle spielst du als Künstlerin?
Eine der Sachen mit denen ich mich immer wieder beschäftige, ist der Unterschied, wie Musik vor 100 Jahren gehört wurde und wie sie jetzt gehört wird. Hier gibt es für mich fundamentale Unterschiede: Früher konnte man Musik nur hören, wenn man sie selbst gemacht hat oder wenn sie live gespielt wurde. Das heißt, der Zustand des ‚Musik-Hörens‘ war in sich ein unüblicher oder besonderer Moment. Man hatte natürlich Musik, die eher in einer Bar oder beim Volksfest gehört wurde oder in der Kirche oder im Konzertsaal. Aber wenn zum Beispiel eine Symphonie von Beethoven aufgeführt wurde, dann war das mit das Lauteste, was die Leute je gehört haben, jenseits vom Schlachtfeld. Heutzutage haben wir viel musikalischen Input von der Welt draußen. Alle laufen mit Kopfhörern herum, es läuft Hintergrundmusik in Restaurants und Geschäften. Überall wirst du mit diesem eigentlich extrem wertvollen Gut durchflutet. Ständig. Ich glaube, wir müssen uns als Musiker*innen bewusst sein, dass man die Leute in einem ganz anderen Gemütszustand abholt, wenn ein Konzert beginnt als zu der Zeit, in der die Stücke komponiert wurden. Der Modus des Zuhörens hat sich stark verändert. Deswegen ist es für mich so wichtig, wie ich dieses Setting kreiere. In dem schamanischen Setting geht es vor allem darum, dass es sich wohlig und gut anfühlt und irgendwie bedeutsam. Das ist einer der größten Unterschiede zwischen diesem Projekt und einem klassischen Konzert: Der Saal soll dich dazu motivieren, introspektiv zu werden, zum Ort der Kunst und der Exploration werden. Er ist damit viel mehr als nur ein Konzertsaal. Auch anders ist, dass ich von Anfang an da bin: wenn die Leute hereinkommen bin ich schon auf der Bühne. Viele Menschen gehen in ein Konzert, um einen Star zu sehen und nicht nur um die Musik zu hören. Ich wollte der Musik den Star-Charakter geben und dafür musste ich mir als Künstlerin den Star-Charakter nehmen. In diesem Konzertformat sollen zwei Sachen im Zentrum stehen: die Musik und Du. Das sind die zwei Hauptakteure. Ich gewährleiste an dieser Stelle nur den Prozess.

»... letztendlich liegt die Magie oder der Prozess in der reisenden Person selbst – und in der Musik, die diese Reise intensiv werden lässt.«

Das heißt, du bist eher vermittelnde Person zwischen der Musik und den Zuhörenden?
Genau. Bei schamanischen Reisen kenne ich das auch so, dass der Leitende vermittelt: „Ich bin im Dienst für dich hier. Du bist die Person, die entscheidet und weiß, was am besten ist.“ Das heißt, der leitende Schamane bietet eine Meditation an, der du folgen kannst, aber wenn deine Gedanken dich gerade in eine andere Richtung bringen, dann sind deine Gedanken das Entscheidende. Ich als Ritualleiterin biete Hilfestellungen an, Verknüpfungspunkte, Inspiration und Perspektiven. Aber letztendlich liegt die Magie oder der Prozess in der reisenden Person selbst – und in der Musik, die diese Reise intensiv werden lässt.

Und welche Elemente von der schamanischen Reise hast du eingebaut?
Also das Setting war angelehnt an das, was ich von schamanischen Reisen gelernt habe. Das heißt, dass man bequem liegt, dass es warm ist und man sich wohlfühlt. Der Kopf ist ausgerichtet zum Altar. Auf dem Altar sind Objekte, die für jedes Element stehen: Wasser, Feuer, Erde, Luft. Die Kärtchen mit den Begriffen sind vor allem eine Hilfestellung, um bestimmte Dinge hervorzurufen, die dich selbst betreffen. Das heißt zum Beispiel, wenn du eine Karte umdrehst, und auf dieser Karte steht „Vertrauen“, dann wirst du Assoziationen haben und dir Fragen stellen: „Warum habe ich dieser Person nicht vertraut oder warum habe ich so große Schwierigkeiten mit Vertrauen? Vertraue ich Leuten zu einfach? Warum bin ich so naiv?“ Du wirst sofort in einen inneren Monolog gehen und es ist egal, ob auf deiner Karte „Vertrauen“, „Freiheit“ oder „Loslassen“ geschrieben steht. Dazu habe ich warmen, leckeren Tee ausgegeben. Auch das hilft, um eine Fassbarkeit des Moments zu schaffen. Es ist ein gemeinsamer Auftakt als Gruppe: Jetzt geht es los und ab jetzt befinden wir uns tief in der Reise. Das wichtigste Element, das ich von der schamanischen Reise hineingenommen habe, ist der gesamte Prozess, also die Abfolge der Handlungen und der äußere Rahmen. Die Musik ist in diesem Fall das Medium, das uns in den Zustand der Bewusstseinsveränderung bringt.

Video: Philipp von der Dellen

Du hast unter anderem Musik von Johann Sebastian Bach gespielt. Würdest du sagen, Bach eignet sich besonders für eine solche Reise? Hast du das auch schon mit anderer Musik versucht?
Es gibt eine andere große Gruppe oder Form von musikalischen Stücken, die in Bezug auf Bewusstseinserweiterung oft eingebracht wird: Minimal Music. Ein wenig hypnotisch angehauchte, tranceartige Musik mit sehr vielen Wiederholungen. Für mich gibt es aber fast nichts Bewusstseinserweiternderes als einen Beethoven oder einen Bach. Im Vergleich zu der eher tranceartigen Minimal Music habe ich persönlich tiefere Erlebnisse mit diesen klassischen Werken erfahren. Es gibt im klassischen Repertoire Stücke, die, aus welchen Gründen auch immer, unter uns Musiker*innen als heiliger empfunden werden als andere. Das sind für mich Stücke, in welchen der existenzielle Zustand des Menschseins besonders gut getroffen wurde und die etwas davon in sich tragen. Dort ist ein Zustand, eine Emotion oder ein Prozess musikalisch beschrieben worden, der fundamental ist für das Menschsein. Damit erfassen diese Stücke etwas, das sonst nicht greifbar wäre und besitzen für mich eine Art Weisheit. Ich habe beispielsweise von Bach die Chaconne gespielt, ein Satz aus der zweiten Solopartita für Geige. Dieses Werk hat er direkt nach dem Tod seiner ersten Frau geschrieben. Diese Stücke sind extrem emotional. Ich persönlich sehe in ihnen ein Überwinden von tiefer Traurigkeit hin zu einem Zustand, in dem wieder Hoffnung entstehen kann, aber ohne zu verleugnen. Du lernst, Trauer zu akzeptieren und daraus Kraft zu schöpfen. Dieser Prozess ist in der Chaconne von Bach für mich dargestellt. Deswegen finde ich dieses Stück bewusstseinserweiternd.

Wie kommen Musik und Meditation zusammen und wie lief die Reise ab?
Bei schamanischen Reisen die ich kenne, ist es normalerweise so, dass jede Runde zwischen 45 und 60 Minuten dauert. Eine Reise besteht aus zwei bis vier Runden. In unserem Konzert bestand eine Runde ungefähr zur Hälfte aus Meditation und zur Hälfte aus Musik. Ich habe die Meditation immer mit der Musik zusammen ausgewählt. In der Meditation geht es um Fragen wie: „Was bedeutet es, Mensch zu sein und was für ein Mensch bist du?“ In diesen geöffneten Raum kommt dann die Musik, um das Ganze noch zu intensivieren. Wenn die Musik zu Ende ist, wird nicht geklatscht. Es ist ganz bewusst ein bis zwei Minuten Stille, damit du in deiner eigenen Zeit wieder zurück in das Hier und Jetzt kommen kannst. Die dritte Runde ist dann die letzte und offene Runde meiner Reise mit der Möglichkeit, sich auszutauschen und zu berichten. Da setze ich mich mit in die Gruppen. Meist brauchst du eine Weile, fängst an zu reden, kommst ins Gespräch und bist einfach in diesem verlangsamten, introspektiven Zustand, in den wir heutzutage so schwer kommen.

»Ich war wirklich berührt davon, wie sehr die Leute sich fallen lassen und versinken konnten in der Musik.«

Bleiben wir nochmal bei den Zuhörenden. Wie wurde dieses ungewöhnliche Format vom Publikum aufgenommen?
Ja, das kommt natürlich auch immer auf das Publikum an. Es ist eigentlich genauso wie bei einer traditionellen schamanischen Reise: Du musst da sein und dich darauf einlassen wollen. Generell habe ich das Gefühl, dass einige Leute durch dieses andersartige Konzept viele Stücke zum ersten Mal so intensiv erleben können. Weil eben vieles, was diesem Erleben normalerweise im Weg steht, wegfällt: Der Fokus auf die kunstschaffende Person, das Stillsitzen, und und und… Es geht nur um dich, und es geht um die Musik, und es gibt nichts, was diese direkte Beziehung von Musik zu dir unterbrechen könnte. Du kannst die Augen geschlossen haben und siehst die anderen Leute nicht. Du hast deinen eigenen Bereich, deinen eigenen Space. Ich hatte eine sehr, sehr positive Erfahrung mit der Reaktion der Leute.

Hattest du das Gefühl, es gab Menschen, die sich schwerer darauf einlassen konnten?
Also ich hatte das Gefühl, dass ältere Menschen sich teilweise schwerer darauf einlassen konnten als jüngere. Ich glaube aus zwei Gründen: Auf der einen Seite, weil diese älteren Menschen sich dem konventionellen Konzert eigentlich sehr verbunden fühlen und da ihre Komfortzone haben. Da setzt man sich auf einen Stuhl und legt sich nicht auf den Boden, wie es hier der Fall war. Ich spiele sehr viel mehr „normale“ Konzerte als solche Konzeptkonzerte – und die Leute lieben das. Ich liebe das übrigens auch! Das sollte man noch dazu sagen. Auf der anderen Seite glaube ich, dass der Schamanismus immer noch eine Thematik ist, die mit Vorurteilen in viele Richtungen behaftet ist. Je älter jemand ist, desto größer ist die Chance, dass man sich diesen Vorurteilen stärker verbunden fühlt und es deswegen schwerer sein kann, dafür empfänglich zu sein – das muss aber nicht so sein. Jüngere Leute sind an dieser Thematik der Selbstfindung noch stärker interessiert. Wenn man in seinen Zwanzigern, Dreißigern oder jünger ist, ist man ja ständig mit der Frage befasst: „Wer bin ich und wer könnte ich sein?“

Es gab in diesem Konzert generell sehr viel Interaktion zwischen dir als Musikerin, aber auch als Ritualleiterin mit dem Publikum. Haben dich Dinge dabei überrascht und hast du für dich etwas mitgenommen?
Total. Es war für mich auch ein Experiment. Ich war wirklich berührt davon, wie sehr Leute sich fallen lassen und versinken konnten in der Musik. Ich habe auch in mir selbst gemerkt, wie unterschiedlich es sich angefühlt hat zu spielen im Vergleich zu einem klassischen Konzert. Von vielen habe ich auch mitbekommen, dass sie gerade wegen dieses Konzeptes gekommen sind. So habe ich gemerkt, wie es gewirkt hat, wie intensiv es war und wie Gedanken ausgelöst wurden, die wertvoll waren. Es war sehr berührend und auch sehr motivierend.

Hast du vor, dieses Projekt noch mal weiterzuführen mit neuen Ideen?
Auf jeden Fall. Also ich finde, es ist ein super spannender Bereich, und ich hatte das Gefühl, es tut beiden Bereichen sehr gut: Die klassische Musik hat eine ganz andere Wirkung bekommen und das schamanische Ritual ist viel zugänglicher geworden. Die größte Herausforderung dabei ist herauszufinden, wie ich am besten das Publikum erreichen kann, um eine wertvolle Erfahrung zu schaffen. Denn das klassische Publikum und das schamanische Publikum sind zwei sehr gegensätzliche Gruppen von Menschen. Die Verknüpfungen sind da nicht so selbstverständlich. Aber ich bin davon überzeugt, dass man mit dieser Symbiose bereichernde Erfahrungen für beide Gruppen ermöglichen kann. Da ist natürlich sehr interessant, in welchem Rahmen das Projekt am besten wirkt: im eher klassisch etablierten Rahmen, in einem völlig losgelösten Rahmen oder in einem schamanischen Rahmen.

Welche Stücke sollten wir uns unbedingt anhören, die für dich eine spirituelle und heilige Wirkung haben?
Also, naja… viele (lacht). Das ist jetzt kein Geheimtipp, aber: Ein Werk, das eine sehr starke Wirkung haben kann, ist Olivier Messiaens „Quatuor pour la fin du temps“. Das heißt übersetzt: „Quartett für das Ende der Zeit“. Allerdings würde ich das auf jeden Fall live hören. Messiaen hat das Stück komponiert, als er selbst von den Nazis in einem Kriegsgefangenenlager in Görlitz im Zweiten Weltkrieg festgehalten wurde. Es wurde in diesem Arbeitslager von Häftlingen uraufgeführt. Es ist ein Stück für Klavier, Geige, Cello und Klarinette. Die Besetzung hat Messiaen so gewählt, weil gerade eben diese Musiker*innen ebenfalls da waren. Ein unfassbares Stück. Live, im richtigen Rahmen, im richtigen Zustand dieses Werk zu hören, kann dich wirklich ganz, ganz weit bringen. //